Eugen Drewermann: "Dostojewskij ist auch heute noch aktuell"

Vortrag des streitbaren Theologen in Herzogenrath war Höhepunkt der Reihe "Dostojewskij 200" - Pfarrer Joachim Leberecht ist Initiator des Projekts

Themen wie Weltklima oder die Pandemie sind derzeit in den Schlagzeigen mancher Zeitungen und Gedanken vieler Menschen vorherrschend. Da kann ein vor 200 Jahren geborener russischer Schriftsteller doch eigentlich nur "unzeitgemäß" sein. Ist dem wirklich so? Der Paderborner Psychoanalytiker und Theologe Eugen Drewermann donnerte dieser Frage bei sonstiger Sanftmut der Rede in der Kulturkirche St. Josef Straß ein entschiedenes "Nein" entgegen. Sein Vortrag "Bedürftigkeit und Glauben in den Romanen Fjodor Dostojewskijs" war Teil und bisheriger Höhepunkt der Reihe "Dostojewskij 200". Die wird in diesem Herbst veranstaltet von der Initiative "Kultur und Spiritualität" in Herzogenrath in Verbindung mit der evangelischen Lydia-Gemeinde am Ort und dem Evangelischen Erwachsenen-Bildungswerk des Kirchenkreises Aachen.

Geistig hellwach und profunder Kenner des Themas

Eugen Drewermann ist inzwischen 81 Jahre. Geistig ist der streitbare Kirchenkritiker nach wie vor hellwach. Und ein profunder Kenner des von ihm ausgebreiteten Themas allemal. Anhand exemplarischer Roman-Figuren des russischen Weltdichters wies er nach: Die von ihnen aufgeworfenen Fragen und erlittenen Erlebnisse sind auch unsere. Dies gilt im gesellschaftlichen Leben für Armut und Angst, im menschlichen für Liebe und Schuld. Und auch die letzten Dinge wie der Tod, die Frage nach Gott und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit beschäftigen weiterhin. Dies trotz einer vorherrschenden naturalistisch-rationalen Weltsicht. Dostojewskij, so Eugen Drewermann, habe als Revolutionär, Zwangsarbeiter, Spielsüchtiger sowie unglücklich wie glücklich Liebender selbst die Extreme des Lebens ausgelotet. Er sei kaum Begleiter für Menschen, deren Leben in scheinbar geordneten und gesicherten Bahnen verlaufe.

Dichter der Krise kann "Medikament" sein

Als Dichter der Krise, der Zuspitzung, der Entscheidung sei der von ihm tief verehrte Russe indes ein Therapeut, ein "Medikament". Drewermann: "Ein Buch von Dostojewskij kann 30 Jahre ungelesen im Bücherschrank stehen. Doch dann kommen Momente im Leben, wo man es als Trost und Lebensnahrung hervorholt". In  Figuren wie dem gesundheitlich labilen und mitfühlenden Fürsten Myschkin in "Der Idiot", dem sich in Liebe zum gottsuchenden Zwangsarbeiter Raskolnikow aufopfernden Mädchen Sonja in "Schuld und Sühne" oder dem in Zurückgezogenheit lebenden weisen Mönch Sossimo in "Die Brüder Karamasov" leuchteten die Liebe Gottes auf. Sie seien Gegenentwürfe zu Menschen, die trotz Erfolg und Geld keine innere Mitte besäßen.

Fast zweistündiger frei gehaltener Vortrag

Drewerman spricht in seinem fast zweistündigen (freien!) Vortrag von und über Dostojewskij. Doch er denkt in ihn gleichzeitig die Seligpreisungen Jesu in der Bergpredigt ebenso hinein wie die Gedanken etwa eines Erich Fromm. Dessen Buch "Sein und Haben" könnte die Quintessenz Drewermanns befördert haben: "In Dostojewskijs Romanen sind die Armen oft die innerlich Glücklichen und die Reichen menschlich armselig". Der Paderborner Gast zieht dabei eine Linie vom Vulgär-Kapitalismus aus Dostojewskijs 19. Jahrhundert zum Neo-Kapitalismus der Jetzt-Zeit. In "Die Dämonen", so Drewermann, habe Dostojewskij aber auch die Gefahren des sozialistischen Gegenmodells zum Kapitalismus prophetisch beschrieben. "Die Anbetung des Geldes verkehrt und vernichtet alle menschlichen Werte, beschädigt die Schöpfung. Und die Verwirklichung eines irdischen Paradieses ohne Schmerz, Krankheit und innere Konflikte setzt Polizeiherrschaft und Gedanken-Kontrolle voraus". Mithin also die Zerstörung der Freiheit, welche dem Menschen von Gott gegeben sei. Drewermann: "Die von Dostojewskij prophezeite Gefahr ist heute weiter sehr real: Dass der Mensch sich zum Gottmenschen macht und den Menschengott (Jesus) vergisst". Des Russen Credo gelte auch heute: Zuwendung, Güte und Liebe sind das Gegengift zu Ideen von menschlicher Allmacht - ob sie nun egoistischer Natur sind oder im Dienste absoluter Ideen zum scheinbaren "Besten der Menschen".

Eingebettet war der Vortrag in eine Vesper mit Psalm-Lesung und Gebet. Sie wurde geleitet von Pfarrer Joachim Leberecht, der als Initiator des Projektes "Dostojewskij 200" den Referenten begrüßte und vorstellte.

(Text: Joachim Peters)